Themabewertung:
  • 0 Bewertung(en) - 0 im Durchschnitt
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
Universum Metro 2033/ Berlin im Untergrund
#2
Kapitel 2: Die Sammler
Juli 2038 Berlin

Erst ein Liedschlag, dann zwei und drei, dann blieben seine Augen auf. Er lag auf einer Matratze in einem mit Zeltplanen abgetrennten Raum, wie es sie damals auch im Krankenhaus gab, wenn ein Patient besonders viel Ruhe benötigte. Hier in der U-Bahn jedoch teilten diese elastischen Planen Wohnräume oder Zimmer voneinander. Er befand sich an der Kehrgleisanlage von der Station Pankow. Er fuhr sich mit der rechten hand durch seine kurzen blonden Haare, gähnte und richtete seinen Oberkörper auf. In der kleinen Komode neben der Matratze verwahrte er seine Wasserflasche, welche er heraussuchte. Mit einem Zug leerte er die ganze PET-Flasche, denn nach seinem gestrigen Oberflächenbesuch quälte ihn ein dauerhafter Drang nach Flüssigkeit. So ausgedorrt wie seine Mundhöhle mussten damals die Wüsten der Sahara sein, wie manche alten Veteranen erzählten. Er entspannte sich wieder und legte den Oberkörper zurück auf die harte Matratze, schloss seine Augen erneut und dachte an die heutige Rückkehr zum Senefelderplatz nach. Es würde kein leichter Weg sein, den seine Gruppe zurücklegen musste. Denn ab der Vinetastr. wechselte die U-Bahn auf eine Hochbahntrasse, vorbei an der Schönhauser Allee und der Eberswalderstraße bis kurz vor dem Senefelderplatz. Die Alten sagten, früher hätte man für dieses eigentlich kurze Stück mit der funktionierenden U-Bahn nicht mal ganze zehn Minuten gebraucht. Doch in der neuen, harten und rauhen Welt wurde es zu einer gefährlichen Odysee. Sobald sie die hermetischen Schutzräume und Tore an der Vinetastr. hinter sich ließen, könnte jeder weitere Meter den Tod bedeuten. Zum einem war Sommer und dank der atomaren Strahlung wurde die Ozonschicht so in Mitleidenschaft gezogen, dass die Sonne noch kräftiger die Oberfläche mit Wärme versorgte. Fast 50 Grad im Sonnenschein waren keine Seltenheit. Zum anderen hat sich, was die Lebewesen angeht, an der Oberfläche einiges geändert. Menschen mutierten zu Zombies, deren Hunger nicht mehr nach Wissen und Glück gierte, sondern einzig und allein nach Fleisch. Spatzen, waren sie damals noch kleine friedliche Vögel, waren nun viermal so groß und attackierten ihre Beute mit ihren schmerzvollen Schnäbeln. Am schlimmsten war es bei den Insekten. Sie hatten nun die Ausmaße eines Dackel. Ständig mussten sie sich bei ihrem Weg an der Oberfläche vor Chitinpanzern fürchten. Jahrtausende war der Mensch der überlegende Jäger. Doch nun waren sie es, die gejagdt wurden.
Es würde wieder zu einem Marsch des Überlebens werden. Und dann hatten sie noch Kevin dabei, was alles noch schwerer erschienen ließ. Ein normaler menschlicher Körper, der der Strahlung überhaupt nicht wiederstand, während er, ein Sammler, es knapp über eine Stunde an der Oberwelt aushalten konnte. Früher als Kind dachte er immer, es sei selbsverständlich, jeder könnte es. Doch sein Ziehvater, Bruder Johannes von der Kirche, klärte ihn auf: Als damals die atomare Giftwolke Berlin erreichte und alle schwangeren Frauen die verstrahlte Luft inhalierten, veränderte sich scheinbar kurze Zeit später darauf schon die DNA der noch nicht geborenen Baby's. Doch das fanden die Menschen in der U-Bahn nur durch einen Zufall herraus. Ein kleiner Junge, höchstens 5 Jahre alt, war spurlus verschwunden. Die ganze Station suchte den Vermissten und seine Eltern waren mehr als verzweifelt. Er war zwar nur eine Stunde verschwunden, doch in der U-Bahn wusste man nie welchem Gesindel man gegenüberstand. Als der Junge wieder auftauchte fragte man ihn wo er geblieben war. Er konnte es nur mit seinen Fingern beschreiben, denn er war durch die Genveränderung von Geburt an Stumm. Seine Beschreibung führte über Seitenräumen im Tunnel, über Luftschächte bishin zur Oberfläche. Doch alle wussten, dass man es nicht länger als zehn Minuten oben schaffte, ehe man verrückt durch die Strahlung wurde. Dieser vermisste Junge, war er selbst.
Dieser Zwischenfall sprach sich in der U-Bahn so schnell wie ein Lauffeuer herum. Innerhalb einer Woche war die Generation geistlich oder körperlich behinderter Atomwolkenkinder mehr Wert als 10 normale Leben. Der zu der Zeit erst kürzlich gegründete kirchliche Orden machte sich dies zu nutzen und erklärte diese Geschöpfe persönlich von Gott gesegnet. Die Kirche hatte eine Menge Zulauf von hoffnungssuchenden Menschen. Da spielte es ihnen zu, dass verstrahlte Kinder bis zu einer Stunde die Oberfläche erkunden können. Zwar nicht sofort, doch sie würden älter werden und die Zukunft würde es bringen. So kam es, dass die Kirche 2013 mit dem Einfangen von Strahlenkindern anfing. Immer in heiliger Mission und dem Menschen zugute. Hunderte Kinder wurden ihren Eltern beraubt und in die Kirchenstationen gebracht. Auch Jan wurde seinen Eltern weggenommen. In Gottesglauben wurden sie erzogen und der Wille Gottes sei es, dass sie an die Oberfläche gehen und sammeln. Gerade einmal zehn war er, als er seinen ersten Sammlerauftrag bekam. Alles musste beschafft werden: Metall, Stahl, Elektronik, Luxusgüter, Lebensmittel und noch mehr. Und dieser ganze Kram wurde für viele U-Bahnmünzen weiter verschachert, denn andere Stationen besaßen kaum noch Sammlerkinder. Doch was die Kirche nicht bedachte war, dass jene Kinder mit wachsendem Alter unbequeme Fragen stellten oder heimlich für sich Aussagen überprüften und hinterfragten. Zwar taten das nicht alle, weil ihre geistige Behinderung es nicht zuließ eigene Schlußfolgerungen zu finden, doch manche sahen ihr Vertrauen in ihre Ziehväter missbraucht. Denn eigentlich ging es der Kirche nur um Macht.
Er selbst tat das auch nicht mehr aus der Überzeugung zu Gott. Die Bezahlung stimmte einfach.
Für seine Behinderung, nicht sprechen zu können, dankte er Gott. Viele andere Sammlerkinder hatte es schlimmer erwischt. Überall Beulen, verkrüppelte Gliedmaßen, Intelligentquozient eines 12 Jährigen. Ihm hingegen fehlte nur die Stimme. Allerdings glaubte er nicht mehr an die Sammlermission, dass es Gottes Wille sei, nur vor der Kirche musste er so tun als wäre es wirklich seine Bestimmung.

Während er so da lag und mit den letzten Gedanken fast wieder eindöste, hörte er aufeinmal wie der Reißverschluss seiner Zeltplane herunter gezogen wurde. Der allgemeine Kodex verbot es unaufgefordert ihn selbst von außen zu betätigen. Erschrocken fuhr er wieder mit seinen Oberkörper auf, doch es war zu spät, die schlanke Silhouette schob sich bei schwachem Licht in den Eingang. Als er die Person musterte wurde er rot. Noch nie hatte er so einen Blick auf eine Frau werfen können. Sie war hoch gewachsen, hatte lila Haare und eine enge rosa Korsage die ihren Busen aufpuschte, dazu einen rosa String verbunden mit einer lila Nylonstrumpfhose. Ihr Gesicht war schlank und stark geschminkt, wobei auch hier wieder die Farbe lila hervorstach. Sie hatte eine warme Stimme, die sein Herz höher schlagen ließ.
“Du bist Jan der Sammler, habe ich Recht?” fragte sie sanft und weich. Er vermochte nur zu nicken.
“Klaas schickt mich. Ich bin deine Belohnung.” Langsam und gekonnt schnürte sie ihre Korsage los von ihrem Körper. Sein Bauch kribbelte, als wäre eine Horde Ameisen in diesem gefangen. Doch er schüttelte seinen Kopf und bevor sie ihr Oberteil ablegen konnte, kritzelte er mit einem Bleistift auf seinen Notitzblock, >>Verstehen sie mich nicht falsch, doch ich lehne diese Art der Belohnung ab.<<
Die gespielte Freundlichkeit wich von ihrem Gesicht und zeigte Verachtung, “Sehr schön, dann bleibe ich wenigstens verschont mich einem behinderten Sammlerkind hinzugeben.” sagte sie herabfällig. Von der Wohnzelle nebenan vernahm man ein leises Stöhnen. Scheinbar bekam Thorsten, ein Mitglied von Jans Sammlertruppe, dieselbe Belohnung. Die Frau in Lila ging an die Zeltwand, hielt ihre Hände wie ein Sprachrohr an ihren Mund und rief begeistert “Hey Sophia, viel Spaß!” danach lachte sie kurz und fügte hinzu, “Mein Krüppel möchte keine Belohnung!”
Mit einem kurzen höhnischen Blick musterte sie nocheinmal Jan und verschwand aus seiner Schlafstätte. Ihm wurde heiß und kalt. Wut und Ärger erkämpften sich den Weg in sein Bewusstsein. Dieser verdammte Klaas, dachte Jan. Gestern hatte er seinen Arsch für den Stationsleiter von Pankow riskiert, nur um ihn eine dämliche Weinflasche zu besorgen. Hundert mal hatte er Klaas erklärt, dass es an der Oberfläche gefährlicher geworden ist, diese Zombies die Nähe der Sammler spürten und in den letzten Jahren noch aggressiver geworden sind. Jetzt dachte Klaas allen Ernstes, eine Runde käuflicher Sex würde als Dank reichen? Zuallem Überfluss wusste der Stationsleiter, dass er und seine Tochter Elisabeth sich ineinander verguckt hatten. Doch er wollte eine Beziehung verhindern. Seine Tochter sollte keinen Sammler heiraten, sondern einen normalen Mann. Je länger er darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Nur weil seine Stimme stumm blieb, war er noch lange kein Krüppel! Eilig nahm er sich wieder den Bleistift und den Notitzblock, schrieb einige Seiten voll und packte alles in seinen Rucksack. Danach richtete er seine Schlafstätte wieder ordentlich her, schließlich war er nur Gast. Das Gestöhne im Nebenraum wurde für ihn immer lästiger. Nocheinmal ließ er den Blick durch die Räumlichkeiten streifen um nichts zu vergessen. Alles dabei, dachte sich Jan und verließ sein Quartier. Plane an Plane reihte sich draußen aneinander und grenzte die Wohnflächen voneinander ab. Die ehemaligen Schienen waren herausgerissen und dienten nun zur Verbarrikadierung der Ausgänge an die Oberwelt, um jegliche Mutanten abzuhalten die Station zu plündern. Die Luft war gefüllt von dem Geruch frisch gebratener Pilze und Hühnerfleisch. Pankow war eine der einzigen Stationen die mehr als nur Pilze, kleine Meerschweinchen und Ratten anbauten und domestizierten. Das machte das unabhängige Pankow auch so reich. Sie verkauften ihr Hühner- und Schweinefleisch, ihre Kartoffeln und anderes Knollengemüse an das große U-Bahnnetz. Selbst Tomaten wuchsen in manchen Monaten. Verdanken konnten sie dies Jan und seiner Sammlertruppe. Vor zehn Jahren, als man entdeckte, dass sich in den Stationen Vinetastraße und Pankow ebenfalls Überlebende retten konnten, waren Jan und sein Team erst der zweite Sammlertrupp, der jemals in Pankow eintraf und Nahrungsmittel brachte. Die beiden Stationen waren in einem desolaten Zustand. Klaas erzählte ihnen damals von einem Notstromgenerator in dem nicht weitentfernten Krankenhaus Maria-Heimsuchung und bat sie ihn zu beschaffen, da der Strom von der U-Bahnnotbeleuchtung demnächst den Geist aufgeben würde. Ihr Schicksal wäre damit besiegelt gewesen. Damals tat es Jan aus Nächstenliebe und Mitleid. Diese armen Menschen durften nicht sterben. Es war ein schweres Unterfangen, doch letztendlich gelang es ihnen und sie konnten den Generator beschaffen und sogar anschließen. Seit je her ist Pankow ständig im Aufschwung. Der Generator hat so viel Kraft und zwei Stationen verbrauchen nicht so viel Strom, wie es zum Beispiel bei der großen U-Bahn der Fall ist. Dadurch ließ es sich ermöglichen kleine Gewächshäuser mit Hilfe des Grundwassers zu errichten und gute Landwirtschaft zu betreiben. Während man in den meisten anderen Stationen lediglich Ratten, Meerschweinchen-, bestenfalls Katzenfleisch, wirre Pilz- oder komisch anzusehende Wurzelgemüsekreuzungen verspeiste, lebte man hier wie im Schlaraffenland.
Nur in wenigen Zelten brannte schummriges Licht, scheinbar war der “künstliche” Tag angebrochen. Das bedeutete, dass das Stationslicht heller gedreht wurde, damit der menschliche Organismus nicht vollkommen die Orientierung verlor. Die Kehrgleisanlage diente als Wohnstätte der Pankower, während die Station zahlreiche Manufakturwerkstätten beheimatete und in dem Tunnel zwischen Pankow und Vinetastr. reihte sich Bauernhof an Bauernhof. Die Nahrungskammer der Berliner U-Bahn. Täglich kamen Sammlertruppen und tauschten massenweise technische Geräte gegen Lebensmittel. Pankow und die Kirche verdienten sich daran eine goldene Nase. Doch auch Rohstoffe verwandelten die Pankower zu qualitativer guter Endware. Sie besaßen die größte Waffenwerkstatt der U-Bahn. Von einfachen Messern, über Äxte bishin zu MG's stellten sie allerhand tötliche Gegenstände her. Sollte Jan nicht mehr als Sammler fungieren, wollte er auf jeden Fall hier zur Ruhe kommen. Auch wegen Elisabeth. Elisabeth! Seine Gedanken fokussierten sich wieder auf Klaas und das Geschriebene auf dem Notizblock.
Mit eiligen Schritten ließ er Zelt für Zelt hinter sich. Kurz bevor die Station begann und sich auf den Bahnsteig Menschen wie emsige Ameisen tummelten, befanden sich die ehemaligen Diensträume der Berliner Verkehrsgesellschaft. Nun hatte Klaas dort sein Verwaltungsbüro und sein Heim. Jan stieg eine kleine Holztreppe hinauf. Vor dem Büro stand ein junger Wachmann in einer alten blau-gelben BVG-Uniform. Dieser nickte Jan zu, als er ihn kommen sah. Jan tat es ebenso und hielt ihn den Notiblock vor das Gesicht. >>Ich muss dringend zu Klaas.<< stand dort in schnörkeliger Schreibschrift geschrieben.
Der Wachmann las es leise vor und schaute dann Jan in die Augen.
“Der Cheffe kommt erst in einer Stunde. Er inspiziert die Werkstätten und verhandelt mit Sammlern von der Kommunistischen Union.”
Auf seinem Gesicht erkannte Jan Denkfalten und gerade als er schreiben wollte, worüber er nachdachte, schien der Wachmann eine Entscheidung gefällt zu haben. “Eigentlich darf niemand in dem Büro warten, aber ich weiß, wie sehr dir Klaas vertraut. Ich mach da mal ne Ausnahme.” Aus seiner Tasche holte der junge Bursche einen Schlüssel und öffnete die Tür.
“Mach es dir bequem.Wenn Klaas auftaucht, sag ich ihm bescheid. Kannst dir auch n warmen Tee machen. Du weißt ja, wo der Kocher steht.” Jan trat alleine in das kleine Büro ein. Es war in iftgrün gestrichen, wobei einige Wandpartien schon abblätterten. Auf der linken Seite befand sich ein Regal, das mit diversen Ordnern und Büchern vollgestopft war. Zu seiner linken gab es eine Art kleinen Nachtschrank, auf dem ein Kocher gespeist mit Diesel stand und vor ihm befand sich ein alter Schreibtisch aus Holz. Dazu auf beiden Seiten zwei Stühle, die scheinbar aus einem Schulgebäude stammten. Bequem war es auf diesen Sitzgelegenheiten nie. Schaute er auf die andere Seite des Zimmers, sah er eine leicht eingebeulte Stahltür marke Eigenbau. Der Eingang zu Klaas und Elisabeths kleinem Wohnbereich. Immerhin mussten sie nicht in Zelten schlafen. Den Rucksack stellte er auf einen Stuhl und er setzte sich auf den anderen daneben, mit dem Blick auf die Stahltür gerichtet. Vielleicht war ja Elisabeth Zuhause? Sollte er anklopfen? Nein, soetwas traute er sich nicht. Aber was, wenn doch? Das wäre die erste Möglichkeit mit ihr alleine zu sein. Sie könnten das aller erste mal alleine eine Konversation führen und Blicke austauschen, die mehr als nur ein “Ich mag dich” aussagen würden. Nein, nein, nein. Eventuell interpretierte er auch zu viel in ihre Blicke hinein. Er musste sich ablenken. Was meinte der Wachmann? Sammler der KU? Wie kann das sein? Sie hätten eine weite Reise auf sich genommen, denn ihr Reich erstreckte sich vom Fehrbellinerplatz über die ehemalige U3 bis zum Wittenbergplatz. Auch der Zooligische Garten bis zur Bismarkstr. sowie die Berlinerstr., entlang der alten Tunnel der U7, bis zur Bismarkstr. gehörten dazu. Man sprach auch vom Kommunistischen Dreieck. Das war weit im Südwesten von Berlin und Pankow lag im Norden der ehemaligen Hauptstadt. Die schnellste Route war über die U2, jedoch spätestens an der Klosterstr hätten sie Probleme bekommen, denn diese gehörte zu den Vereinigten Stationen von Germania und beide Fraktionen hassten sich bis aufs Blut. Also hätten sie einen Umweg über den Hermannplatz machen müssen, um dann der ehemaligen U8 bis zum Alexanderplatz zu folgen. Der Alexanderplatz gehörte zum Bund freier Handelstationen und damit war er für alle Fraktionen frei begehbar. Zumindestens an den Bahnsteigübergängen und der alten unterirdischen Ladenpassage, die ebenfalls die Linien verband. Denn zwei der drei Bahnsteige wurden ebenso von den Fraktionen annektiert. Der U2 Bahnsteig gehörte der Kirche und der U5 Bahnsteig Germania. Lediglich der Bahnsteig der U8 gehörte zum “Freien Alex”. Diese verzwickte Aufteilung des Alexanderplatzes spülte aber etliche Zollgebühren in die Kassen der Bahnsteigbesatzer. So musste man zweimal Zoll zahlen, wenn man von der U8 auf die Linie U2 oder U5 wechseln wollte. So wollte auch niemand der Mächte dieses Stationschaos beenden und den Alex vereinigen. Trotz aller Widrigkeiten, die die Menschen in der U-Bahn über sich ergehen lassen mussten und müssen hat sich eines nicht geändert: Geld regiert die Welt.
Hätten die Sammler der Kommunistischen Union diesen riesen Umweg bewältigt, so müssten sie danach auf dem Linienstück Alexanderplatz – Senefelderplatz reisen. Doch die Kirche hätte niemals eine Erlaubnis erteilt, die Sammlergruppe dann über die Hochbahntrasse nach Pankow gehen zu lassen. Wie verdammt nochmal kamen sie hierher? Völlig in Gedanken verloren starrte Jan auf die Stahltür ihm gegenüber, die sich aufeinmal mit einem leisen Quietschen öffnete. Alles, woran er eben noch dachte, wurde mit einem Wisch gelöscht und sein Gehirn programmierte sich neu. Es fing an, sachlich zu analysieren, wer da gerade hineinkam, doch sein Herz machte dem ganzen Prozess einen Strich durch die Rechnung und fing wild und unkontrolliert an zu schlagen. Dann sah er sie vor sich. Lange blonde gelockte Haare, die wie ein Goldrahmen ihr bildhübsches Gesicht umgaben. Ihre Haut war blass und rein. In einigen Büchern hatte Jan Engelsbilder gesehen und ihr Gesicht kam das der Engel sehr gleich, obwohl sie ungeschminkt war. Ihre weiblichen Reize nahm der Sammler bisher nie richtig wahr, doch heute trug sie ein enges gelbes Shirt mit kleinem V-Ausschnitt und darunter schloss sich eine enge schwarze Leggings an. So hatte er sie bisher noch nie gesehen. Vermutlich erwartete sie nicht, dass jemand im Büro saß. Würde sein Körper die Funktionen der Stimme haben, wäre er jetzt sprachlos.
Sie schien zuerst überrascht, lächelte dann aber schüchtern. “Oh. Hallo Jan. Ich wusste nicht, dass jemand hier ist. Ich wollte mir nur einen Tee kochen. Ich wollte dich nicht stören.”
Beim Klang ihrer Stimme wurde ihm heiß. Die der Prostituierten war warm und süß. Doch die von Elisabeth war heiß, jedoch nicht verbrennend. Sie war süß, honigsüß, jedoch nicht klebrig. Sie war weich, weicher als jede Matratze, auf der er jemals lag. Jedes mal verspürte er dasselbe, wenn sie ihn ansprach.
Warum verdammt nochmal konnte er nicht sprechen? Würde sie dann dasselbe bei seiner Stimme empfinden? Vielleicht mochte sie es ja auch, wenn er schwungvoll den Stift über das Papier fliegen ließ. Würde er jedoch sprechen können, wäre die Konversation schneller und flüssiger. So zerissen sie jedes mal die Pausen, in denen er schrieb.
Und solch eine Pause gab es genau in diesen Moment.
>>Das ist garkein Problem, ich warte auf deinen Vater.<<
Er überlegte. Es hat auch positive Seiten nur per Schrift sich mitteilen zu können. Ein Gestotter gab es nicht, also würde man auch nie wirklich an der Sprache erkennen, ob jemand nervös, ängstlich oder unsicher war. Jan schrieb nocheinmal etwas auf seinen Block und er musste all seinen Mut zusammen nehmen. Er hatte warscheinlich nur diese eine Chance alleine mit ihr zu sein. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, dachte er.
>>Du siehst heute..<< er radierte das letzte Wort weg. Verdammt! Ich stotter zwar nicht, doch verschreibe ich mich, ärgerte sich Jan.
Geduldig schaute sie weiterhin ihm beim Schreiben zu.
>>Du siehst schön aus.<<
Elisabeth schob den Stuhl vor der Stahltür zurück und setzte sich. Dann tat sie etwas, womit Jan nicht rechnete: anstatt zu reden, nahm sie seinen Notitzblock, der zu ihr gerichtet war. Dann musterte sie seine rechte Hand, in der der Bleistift lag. Vorsichtig ging ebenfalls ihre rechte Hand zur seiner und sie lotste feinfühlig den Bleistift aus seinem Griff. Tausend heiße Wogen überfielen ihn wie eine Flut. Der erste körperliche Kontakt, außer dem formalen Händeschütteln. Als der Bleistift frei war, schrieb sie ebenfalls.
>>Du auch.<<
Ihre blauen Augen leuchteten ihn an und hätte sein Körper aus Eis bestanden, wäre er komplett dahingeschmolzen.
Sie legte den Bleistift neben den Block und Jan drehte beide Gegenstände wieder zu sich.
>>Bitte spreche. Das fühlt sich für mich besser an.<<
Doch sie dachte garnicht dran und tat dasselbe wie Jan eben zuvor.
>>Du weißt wie ich klinge, ich jedoch habe mich bisher noch nie in deine Lage versetzt.<<
Immer wenn sie die beiden Dinge in ihre Richtungen drehten, trafen sich ihre Blicke für zwei Sekunden. Er nahm seinen Mut zusammen. Sie war seine erste große Liebe. Er interessierte sich vorher nie für Frauen, war immer nur in seine Aufträge vertieft gewesen. Die Jahre der scheuen, aber keineswegs desinteressierten Blicke sollte vorbei sein.
>>Du musst wissen, ich komme nicht nur wegen der Aufträge nach Pankow. Nicht wegen dem Geld. Es ist ein schönes Zubrot, doch die schönste Belohnung jedesmal ist die, dich zu sehen.<<
Diesmal konnte er ihr nicht in die Augen sehen als er den Block drehte und ihr den Bleistift fast blind reichte.
Sie ließ sich für das Lesen dieser kurzen Sätze Zeit. Dann schaute sie ihn an und genau in diesem Moment schaute auch er hoch in ihre Augen. Zwei ... drei ... und aufeinmal vergingen 30 Sekunden in denen sie sich einfach nur in die Augen blickten. Dieser Moment sollte niemals enden, wünschte sich der Sammler.
Sie nahm den Stift und schrieb.
Kopfüber, das hatte er schon vor Jahren gelernt, las er mit. Jan konnte nicht einfach abwarten, bis sie die Schreibuntensilien drehen würde.
>>Es ergeht nicht nur dir so. Ich spüre jedesmal deine Blicke, selbst wenn du mit meinen Vater redest und ich anwesend bin, scheinen deine Gedanken seit Jahren nur mich zu fokussieren. Immer wenn ich wusste, du würdest zu uns kommen, bemerkte ich diese...<< Sie dachte nach. Vermutlich überwand sie nun ebenso eine Mauer. >>diese Schmetterlinge im Bauch. Und wenn du gegangen bist, verbreitete sich in mir ein kleines Loch. Ein Loch feuchter Tränen, die so gerne mit dir gegangen wären. Mein Vater hieß meine Gefühle nicht für gut. Doch im Inneren wusste ich, dass ich dich Lie...<<
Mitten im Satz brach sie ab. Die Tür Richtung Bahnsteig öffnete sich mit einem lauten Schwung und knallte gegen die Wand.
Der dicke Wanst eines Mannes, der circa mitte 40 war, schob sich durch den Eingang.
“Hoppla, das war wohl zu viel Kraft.” sagte er mit tiefer amüsierter Tonlage. Klaas hatte Schweißperlen auf der Stirn. Er schaute erst zu Elisabeth und dann zu Jan. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sein Gesicht ernst, doch gleich darauf wieder freundlich. Jan erkannte es sofort: falsche Freundlichkeit.
“Ach hallo Jan. Hoffentlich war Leila nicht zu stürmisch mit dir. Du siehst aus, als hätte dir der Sturm der Liebe echt zugesetzt!” Er lachte schallend und klopfte ihm auf die Schulter und betrachtete dabei, wie Elisas glücklicher Gesichtsausdruck verblasste. Jan drehte den Kopf von Klaas zu Elisabeth und schüttelte diesen energisch. Ihre Hände fingen an zu zittern und ihre Augen wurden rot. Eine Träne floss ihr über die Wange und traf auf die Tischplatte.
Er wollte alles erklären, ihr sagen, dass ihr Vater log und er diese Prostiuierte nie angefasst hat. Doch geschrieben Worte sind nicht so schnell wie gesprochene. Ihre flache Hand knallte auf den Notitzblock und krampfte sich zu einer Faust zusammen.
“Worte verpackt in einer gefühlslosen Hülle!” schmetterte sie ihm schluchzend entgegen, bevor sie sich erhob und wieder in den Wohnraum verschwand. Die Welt, die sich eben vor einigen Minuten für Jan in seinen Kopf aufbaute, zerfiel mit einem lauten Scheppern der Stahltür. Sie war fort.
Klaas schaute gespielt verwirrt zu Jan. “War wohl der falsche Moment”, analysierte er sarkastisch.
Dann begab er sich auf den Stuhl, wo eben noch Elisa saß. Könnten Blicke töten, wäre der Stationsleiter nun tot zusammengesunken, denn Jans Blicke sagten mehr, als tausend Worte. Wütend und zittrig sortierte der Sammler dann seine Notizblätter und fand jene, die er für Klaas verfasst hatte. Mit einem geräuschvollen Schnaufen knallte er sie vor Klaas auf den Tisch.
Der Raum war erfüllt von Hass und Abneigung. Dabei waren Jan und Klaas gute Freunde gewesen. Doch die nun offensichtliche Liebe zwischen dem Sammler und der Tochter des Vorsitzenden von Pankow sollte dies ändern.
Langsam und leise für sich, las Klaas Wort für Wort. Seine Mundwinkel zogen sich immer weiter nach oben. Dann war er fertig und musterte Jan.
“Ich dachte mir einfach nur, dass du mal eine andere Belohnung verdient hättest. Konnte ja keiner wissen, dass du hier sitzt und mit meiner Tochter Liebesbriefe schreibst.” Klaas blickte kurz hinter sich zur Stahltür und fuhr dann ernst fort “Jan, für mich warst du immer ein guter Freund. Hast uns viel geholfen. Vielleicht hätte ich es dir ins Gesicht sagen sollen, da du ja scheinbar meine Gesten und Anmerkungen nicht verstanden hast oder nicht verstehen wolltest. Doch ich wollte dich nicht verletzen.
Ich dachte du hast es gemerkt, dass ich nicht will, was du und Elisa für einander empfindet.
Als guter Freund sage ich es dir jetzt klipp und klar: Lass deine Finger von meiner Tochter! Sie soll einen NORMALEN Mann ehelichen und NORMALE Kinder bekommen.Es ist nichts persönlich gegen dich. “
Er räusperte sich, stand auf und bückte sich über den Tisch um Jans Augen ganz nah zu sein.
“Wirklich Jan. Es tut mir leid für dich, dass ich das alles so beenden musste mir dir und meiner Tochter. Doch es gab keinen anderen Ausweg. Such dir ein Sammlermädchen von der großen U-Bahn.”
Der Stuhl knarrte als sich der Stationsleiter wieder auf ihn setzte. Er wartete ab, was Jan ihm schrieb.
>>Du bist so ein Unmensch geworden. Nach allem, was ich für dich getan habe, tust du deiner Tochter und mir soetwas an! Liebe lässt sich nicht aufhalten!<<
“Aber zerstören. Jan, ich möchte dich bitten, mich nur noch wegen geschäftlichen Dingen zu konsultieren.”
Über mehr hätte Jan auch nicht mehr mit ihm reden wollen. Es würde keine gemeinsamen Abende mit Trunk und Witzen mehr geben.
>>Was hat die Kommunistische Union mit Pankow zu tun?<<
Klaas ließ wieder ein Grinsen über sein Gesicht huschen.
“Wir halten uns Möglichkeiten offen.” war seine vage Aussage.
>>Die Kirche wird das nicht gutheißen. Und sollte diese den Handel stoppen, seid ihr verloren.<<
“Aber nur, wenn sie es erfährt. Ich vertraue als Geschäftspartner natürlich auf deine Verschwiegenheit. Schau Jan, wir heißen Unabhängiges Pankow. Doch sind wir das? Nein, wir sind abhängig von der Kirche. Das müssen wir ändern.” Er zog eine selbsgedrehte Zigarette aus seiner Tasche und zündete sie sich an.
“Wir sind die letzte Arche der Zivilisation. Wir haben genug Ressourcen, um diese zu erhalten. Bei euch in der großen U-Bahn geht es drunter und drüber. Fraktionen hier, Fraktionen da und zwischen durch Banditen und Kriege...”
Jan unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
>>Wie kamen sie hierher?<<
Der Stationsleiter lächelte überlegen. “Das kann und darf ich dir leider nicht sagen.”
>>Der Wohlstand und Luxus hat dir warscheinlich deinen Verstand vergiftet. Du hast zwar deine Arche, doch sie wird für immer und ewig auf dem Wasser treiben und niemals Land erblicken. Da wir ja nur noch Geschäftpartner sind, wie du ja eben meintest, und ich der Kirche diene, kann ich es nicht befürworten, dass du mit der KU verhandelst. Ich werde dies Entsprechen der Kirchenleitung mitteilen. Das Gespräch ist beendet.<<
Jan erhob sich und ging zur Bahnsteigtür. Kurz bevor er sie öffnete, drehte er sich nocheinmal zu Klaas um.
“Versteh doch, es geht um das Wohl der Menschen von Pankow!” Der Stationsleiter machte eine Pause. “Wenn es der Bischof erfährt, wirst du es bereuen. Das verspreche ich dir ”. Das war das letzte, was er sagte.
Jan öffnete die Tür. Der Wachmann fiel ihm fast entgegen, doch konnte der sich gerade noch auf den Beinen halten. Klaas schaute ihn böse an.
“Entschuldigung Cheffe.” fügte er schnell an und zog die Tür wieder von außen zu. Mitleidig guckte der Wachmann Jan an.
“Sorry das ick gelauscht habe. Dit... Dit tut mir echt leid für dich Jan.”
Der Sammler nickte nur, was bedeuten sollte: Schon gut.
Sie gaben sich gegenseitig die Hände und verabschiedeten sich. Vielleicht für immer?
Jan ging wieder zu den Wohnstätten und grübelte. Ja für immer, stellte er fest.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Universum Metro 2033/ Berlin im Untergrund - von Cerche - 26-04-2012, Thursday-08:27:34
[Kein Betreff] - von Cerche - 26-04-2012, Thursday-08:28:06
[Kein Betreff] - von Valdore - 27-06-2015, Saturday-21:28:16
[Kein Betreff] - von Cerche - 31-07-2015, Friday-15:48:06

Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste